Ost-Western in Schwerin

Ost-Western in Schwerin

Schwerin. Seit über zehn Jahren leider die einzige deutsche Landeshauptstadt ohne eigene Braustätte. Aufgrund Einwohnerschwund ist sie auch die einzige deutsche Landeshauptstadt ohne Großstadtstatus. Ein außerhalb Schwerins hinter vorgehaltener Hand anzutreffendes Image einer mit einer gewissen Verschlafenheit gesegneten Beamtenstadt lässt sich nach einer Verifizierung aus amtlichen Daten tatsächlich nicht vom Tisch wischen. Aus dem Pendleratlas der Arbeitsagentur ist ersichtlich, dass es bei 95.000 Einwohnern 50.000 sozialversicherungspflichtige Arbeitsplätze gibt. Davon ist die Hälfte mit Leuten besetzt, die in die Stadt einpendeln. Das Statistische Jahrbuch Schwerins verrät uns, dass der mit Abstand größte Anteil durch den öffentlichen Sektor mit 20.000 Stellen bei seit Jahren steigender Tendenz repräsentiert wird. Also zum Großteil durch die Verwaltung in der Landeshauptstadt Mecklenburg - Vorpommerns. Die 25.000 Pendler sind naturgemäß spätestens am Wochenende nicht mehr in der Stadt. Kapazitäten und Öffnungszeiten der Gastronomie pendeln im Gleichtakt mit. Das haben wir als Insider bei unserem Besuch am Wochenende vorab in der Planung berücksichtigt und daher einen Teil der raren Gastro-Ressourcen für uns geblockt. Bevor wir uns jedoch im „Schreibers“ am dritten Novembersamstag den kulinarischen Genüssen hingeben, steht zunächst ein tiefer Einblick in die kritische Infrastruktur auf dem Programm. Das Wasserwerk „Mühlenscharrn“ im Stadtteil Neumühle ist eines von zwei Wasserwerken, durch welche Schwerin versorgt wird. Beide Werke speisen in dasselbe Netz ein. Zum Netz gehörig ist als ältestes Bauwerk der Schweriner Wasserversorgung auch der 1890 in Betrieb genommene Wasserturm Neumühle, welcher mit seinen 22 m Höhe als Druckausgleichsbehälter für konstanten Druck von 2 bar in seinem Einzugsgebiet sorgt. Der gut sichtbare denkmalgeschützte Backsteinbau grüßt uns auf dem Weinberg stehend bei der Anfahrt nach Neumühle.

Wir werden herzlich empfangen und erkunden mit Betriebsingenieurin Michaela Biermann und Gruppenleiter Volkhardt Zillmann das Gelände. Im Wasserhaus fällt optisch die hygienische Sauberkeit eines Lebensmittelbetriebes ins Auge, akustisch sind die Kompressoren der Belüftungsanlage hörbar und olfaktorisch liegt ein hintergründiger leicht schwefliger Geruch in der Luft, welcher sich auf Nachfrage als mit dem Wasser natürlich vergesellschaftetes Gasgemisch aus Methan und Schwefelwasserstoff entpuppt. Das Gas verflüchtigt sich selbsttätig, ansonsten wird nur noch Eisen und Mangan auf physikalischem Weg entfernt. Das erfolgt mit durch Belüftung induzierter Ausfällung und Filtration über Kiesbettfilter. Die mikrobiologische Qualität ist von Natur aus im Normbereich – also keine Desinfektion notwendig. Die Gesamthärte liegt bei 16°dH, wir haben es hier mit hartem Wasser zu tun. Eine Härtereduzierung wäre selbstverständlich möglich aber mit weiterzureichenden Kosten verbunden. Insofern agieren die Wasserwerker zwar im kaufmännischen Sinne der Kunden, haben aber nicht immer deren Verständnis auf Ihrer Seite. Da das produzierende Gewerbe und Industriebetriebe in Schwerin leider eine rückläufige Entwicklung aufweisen, sind inzwischen die Helios-Kliniken größter Kunde. Kapazität bei einer überraschenden Kehrtwende wäre ausreichend vorhanden, von 25.000 m³ Tagesleistung werden im Schnitt 15.000 m³ durch die Kunden via Wasserhahn abgerufen.

Bei unserem Abschied in Neumühle hinterlassen wir für die 14-köpfige Belegschaft einige Kisten auf Getreidebasis veredelten Wassers für den sensorischen Abgleich mit dem eigenen Produkt.

Nach dem oben erwähnten Leibesgenuss im „Schreibers“ folgt für uns als Seelengenuss der kulturelle Jahresausklang im Mecklenburgischen Staatstheater. Das Schauspiel „Chico Zitrone – im Tal der Hoffnung“ ist die dritte Regiearbeit des Schauspielers Milan Peschel am Schweriner Haus. Im Gewand des Western daherkommend erleben wir ein ungewöhnliches Stück voller Doppeldeutigkeiten, Denkanstöße und wechselnder Perspektiven. Anfang, Ende, Handlungsstrang, Spannungsbogen, Titelheld. All das findet man hier im klassischen Sinne nicht. Es ist vielmehr ein Versatzstück aus Zitaten und bedienten Klischees, eine Collage an Metaphern, Anspielungen und Gedankenblitzen in einem solchen furiosen Tempo, das dem Uneingeweihten wahrscheinlich mehr Fragen als Erkenntnis beschert. Die Eroberung des Wilden Westens von Ost nach West oder die Umbrüche im Wilden Osten nach dem Mauerfall? Aufbruch- und Goldgräberstimmung oder Enttäuschungen und zerplatzte Träume? Das Filmgenre Western in alten B-Movies oder moderne Videoinstallation? Schauspieler oder Schauspielrolle? Fiktive Westernstadt oder Schwerin? Die multiplen Blickwinkel und Betrachtungsebenen wechseln schnell, vermischen sich oder finden zeitgleich statt.

Nach einhundertsechzig Theater-Minuten bekommen wir nochmals im „Schreibers“ als fast einzigem noch offenen Ausschank bei einem letzten Glas Bier die Gelegenheit, unsere Gedanken wieder zu ordnen. Als Fazit des Stücks bleibt als kleinster gemeinsamer Nenner die alte Erkenntnis, dass es besser ist miteinander zu reden als nur übereinander.

Jetzt ist Zapfenstreich und wir verabschieden uns für dieses Jahr in die Nacht der fast menschenleeren Schweriner Altstadt.

Frank Lucas

Eindrücke

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