In Vino Veritas

In Vino Veritas

Höhere mittlere Temperaturen, Rückzug von alpinen Gletschern, steigende Meeresspiegel, trockenere Sommer mit weniger aber intensiveren Niederschlägen, Abschmelzen der arktischen Eiskappe. Wir befinden uns im Hochmittelalter des Jahres 1050 und vor uns liegen noch 300 Jahre der nach diesem Zeitalter benannten „Mittelalterlichen Warmzeit“. Was an eine aktuell übliche alarmistische Verlautbarung erinnert, ist also nichts Neues unter der Sonne. Das Mittelalter war beileibe nicht so „finster“ wie die geläufige Redewendung suggeriert. Aufblühen von Wissenschaft und Kunst mit Romanik und später Gotik, Wirtschafts- und Bevölkerungswachstum, reiche Ernten, Ausdehnung des Handels und Besiedlung vormals unwirtlicher Territorien. Die Namensgebung „Grönland“ durch die Wikinger kommt nicht von ungefähr. Das alles korreliert mit dieser Warmphase und wird in der darauffolgenden Abkühlung ein Ende finden. Kürzere und kältere Vegetationsperioden gekoppelt mit langen eisigen Wintern induzieren Missernten, verheerende Hungersnöte, Mangelernährung, Verelendung und Bevölkerungsreduktion. Diese wettertechnisch als „Kleine Eiszeit“ bekannte Periode endet just um das Jahr 1850 – dem Beginn kontinuierlicher Wetteraufzeichnungen. Da wir seitdem wieder in eine erneute Warmphase eintreten, deren Dauer seriöserweise niemand vorhersagen kann, folgt es den Gesetzen der Logik, dass die Halbwertszeit von Wärmerekordverkündungen immer kürzer wird. Manchmal wird der einordnende Nachsatz „seit Beginn der Wetteraufzeichnungen“ nur noch halblaut vermeldet, steht im Kleingedruckten oder fällt ganz unter den Verkünder-Tisch. Wir sollten im enger werdenden Debattenraum die positiven Aspekte wärmeren Wetters nicht ausblenden, auch diese gehören zur Wahrheit. Da die Wahrheit im Wein liegt, schauen wir uns das gemäß unseres heutigen Mottos „In Vino Veritas“ direkt in unserem Bundesland vor Ort an. Denn mit der Erwärmung verlagert sich auch die Weinbaugrenze nordwärts.

Startpunkt der diesjährigen Studienreise ist am letzten Oktober-Wochenende das „Postel“ in Wolgast. Diese Wortschöpfung aus „Post“ und „Hotel“ bezeichnet die komplett durch unsere Reisegruppe belegte denkmalgeschützte Unterkunft, welche vor 140 Jahren ursprünglich als „Kaiserliches Postamt“ in gründerzeitlicher Backsteinoptik ihre Pforten öffnete.

Unser Ziel liegt eineinhalb Busstunden entfernt im lärmfreien Landidyll der „Brohmer Berge“, welche zusammen mit den „Helpter Bergen“ als eiszeitliche Hinterlassenschaften die höchsten Erhebungen unseres Bundeslandes darstellen. Bei Ankunft am neoklassizistischen Schloss Rattey werden wir nicht nur durch nebelvertreibende Sonnenstrahlen als Vorboten eines goldenen Herbsttages begrüßt, sondern auch von Weingutsleiter Stefan Schmidt und Braumeister Mario Eschenberg. Wir bleiben zunächst im Bus und erkunden die Rebflächen des mit 40 ha größten norddeutschen Weinguts. Die natürlichen Gegebenheiten sind gut. Sonnenscheindauer ist reichlich vorhanden und durch die tondurchzogenen Lehmschichten ist auch jederzeit ausreichend gespeicherte Feuchtigkeit im Boden und macht eine Bewässerung selbst in trockenen Jahren entbehrlich. Fehlende Steillagen und die derzeit noch etwas kürzere Vegetationsperiode wird durch gezielte Sortenauswahl früher und frostharter PIWI-Rebstöcke ausgeglichen. PIWI steht für Pilz-Widerstandsfähigkeit. Die innovativen Sorten werden seit Anfang der 2000er Jahre auf Basis von klassischer Kreuzungszüchtung und Pfropfung auf geeignete Unterlagen kreiert. Ziel ist die drastische Verringerung der je nach Witterung erforderlichen verhältnismäßig hohen Anwendung von Pflanzenschutzmitteln gegen Pilzbefall. Ein großes Thema der Winzer. Durchschnittlich 60% der in Deutschland ausgebrachten Fungizide landen auf einem Weinberg. Ähnlich hohe Quoten sind auch international anzutreffen. Hier schlummert erhebliches Reduktionspotenzial.

Zurück am Schloss folgt die Tour durch den Weinkeller mit Stefan Schmidt. Der in Magdeburg geborene Oenologe absolvierte sein Weinbaustudium im bulgarischen Plovdiv und baute in Neubrandenburg eine Weinkellerei mit auf. Die dort von ihm entwickelte „Cherry Lady“, eine Rotwein-Kirschsaft-Cuvée mit Kultcharakter, gibt es heute noch. Von Beginn an im Jahre 1999 begleitet er die aus einem Winzerverein entstandene Entwicklung in Rattey und leitet den Betrieb seit 2011. Im Jahr 2019 wurde das Weingut von der Inselmühle Usedom erworben und seitdem wird kräftig investiert. Bis jetzt über 30 Mio. Euro hier am Standort Rattey! Das ist auch in jedem Produktionsraum erkennbar. Alles ist möglich. Vergärung und Ausbau in Holz oder Edelstahl bis hin zur „Méthode Champenoise“ als traditionelle Flaschengärung für hochwertige Sekte. Eine kupferne Brennblase mit beachtlichem Ausmaß nebst zugehöriger Rektifizierkolonne ist auch mit von der Partie. Abfüllung erfolgt in Flaschen mit Schraubverschluss bis hin zum Naturkork mit Agraffierung. Die neue Abfülllinie inklusive Tunnelpasteur befindet sich in der Inbetriebnahme, ebenso wie die Entalkoholisierungsanlage mit einer Leistung von erstaunlichen 20 hl/h. Hier hat man augenscheinlich Großes vor! Beide Anlagen werden synergistisch auch von der seit 2023 betriebenen Brauerei genutzt werden können. Im Reich von Braumeister Mario Eschenberg erwartet uns ein 50-hl-Sudwerk von Kaspar Schulz inklusive fünf offener zylindrischer Gärgefäße sowie 20 liegender Lagertanks jeweils in Sudgröße. Ein der Inbetriebnahme harrender Separator komplettiert das Haus der vielen Möglichkeiten. Das Bier wird in der Halbliter-Euroflasche als „Brohmer Landbier“ vermarktet. Vielleicht in Anlehnung an den „Mecklenburger Landwein“, eine für Rattey seit 2009 nach EU-Recht geschützte geografische Angabe und eines von 26 anerkannten deutschen Landwein-Gebieten. Der Begriff „Landwein“ vermittelt eher etwas Schlichtes und Einfaches. Dass dem nicht so ist, konnten wir schon auf der Tour mit Stefan Schmidt frisch vom Tank des aktuellen Jahrgangs sensorisch erkunden. Souvignier gris, Blütenmuskateller und der farbintensive Regent lassen fertig ausgebaut dereinst eine intensive und feine Aromatik erwarten. Im Hofladen finden auch noch andere PIWI-Rebsorten den Weg in unsere Einkaufskörbchen, beispielsweise Muscaris, Phoenix, Solaris oder Monarch. In Rattey werden zudem Brände und Liköre sowie Weinessig und Verjus produziert. Im Hofladen finden sich ebenso die Erzeugnisse des Gesamtprojekts Inselmühle Usedom: kaltgepresste Speiseöle, Obst- und Gemüsesäfte, Senf sowie Fleisch und Wurst vom Wasserbüffel. Alles aus eigener Aufzucht bzw. eigenem Anbau. Aus dem Impressum der Inselmühle-Website ist als Geschäftsführer Horant Elgeti ersichtlich. Kein unbekannter Name in MV. Vater Herwig Elgeti ist als Agrarwissenschaftler aus Broderstorf bei Rostock international anerkannter Kartoffelexperte. Die Söhne Horant und Rolf Elgeti sind stark im ostdeutschen Immobiliengeschäft engagiert. Bei Fußballdrittligist Hansa Rostock machte Rolf zudem als Investor Schlagzeilen.

Zum Finale in Rattey wartet auf uns eine Stärkung in Form von Pasta und vier Bieren vom Fass in der zum Veranstaltungssaal ausgebauten Scheune des Schlosshotels. Neben Pils und einem Dunkel hat Braumeister Mario für uns ein Fruchtbier mit Aprikosen von der inselmühle-eigenen Plantage sowie selbstverständlich ein IGA – ein Italian Grape Ale - am Hahn. Eine eigene Kreation dieses Bier-Wein-Hybrids mit seinem italienischen Ursprung drängt sich bei der Konstellation in Rattey förmlich auf. Und Mario ist geradezu prädestiniert dafür, diesen relativ jungen Bierstil hier zu brauen. Denn der im Pils-affinen Jever aufgewachsene Friese hat vor seiner Ankunft von BRLO in Berlin kommend auch einige Zeit in Italien bei handwerklich geprägten Brauereien gearbeitet. Nach unserem ausgiebigen und umfassenden Aufenthalt hier in den Brohmer Bergen gilt ihm unser besonderer Dank für die Organisation und Kontaktanbahnung auf Schloss Rattey. Mit Mario haben wir auch gleichzeitig ein neues Mitglied für die Landesgruppe gewonnen.

Die Rücktour vergeht wie im Flug. Wir begeben uns zu einer kurzen Stippvisite in das Domizil des Wolgaster Braukultur e. V.  im Keller des Rathauses. Der Verein braut hier seit 2022 mit viel Enthusiasmus und Freizeit-Invest eigenes Wolgaster Bier. Nach dem Fachsimpeln mit Gastwirt Thomas Krüger als Vereinschef geht´s zum Abendessen ins „No. 46“ – dem Restaurant von Thomas. Der rustikale Schlachteteller erfordert einen kurzen Verdauungsspaziergang zurück ins Postel. Hier in unserem Basislager können wir einem seit langem der Landesgruppe verbundenen alten Bekannten unseren Dank aussprechen. Es ist Jan Grosch, der sich maßgeblich an der Planung beteiligte und uns die unkomplizierte und flexible Nutzung der Räumlichkeiten des Postels ermöglichte. Wir strapazieren diese Gelegenheit nochmals ausgiebig zum Studienreise-Ausklang bei anregenden Gesprächen und gezapftem Bier. Die vielfältigen Eindrücke der Fahrt lassen wir Revue passieren und stellen fest: Im Wein liegt Wahrheit – im Bier aber auch. Cerevisiam bibat!

 

Frank Lucas

Eindrücke

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